- Musikhören: Zwischen Verstehen und Aushalten
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Dreißig Jahre war der 1950 im schottischen Glasgow geborene James Dillon jung, als sich die Szene der Neuen Musik für ihn zu interessieren begann. Seine frühen musikalischen Erfahrungen machte er mit schottischer Dudelsackmusik und als Mitglied einer Rockband. Um die zwanzig herum verlor er jedoch das Interesse an Rockmusik, da er den progressiven Rock dieser Jahre hasste. Er brachte sich anhand von Glenn Goulds Aufnahmen die Beethoven-Sonaten zu spielen bei und entdeckte indische und mittelalterliche Musik. Ohne je eine gründliche Konservatoriumsausbildung genossen zu haben, studierte er in London Akustik und Linguistik. Erst Anfang der Achtzigerjahre wurde er weiteren Kreisen bekannt und erhielt in der Folgezeit wichtige Kompositionsaufträge. Seitdem wurde Dillons Musik häufig in den Zentren für zeitgenössische Musik von Toronto bis Darmstadt gespielt.James Dillon gehört zu jenen Komponisten, die auf der Suche nach dem »Unerhörten« das instrumentale Schreiben an die Grenzen der Unmöglichkeit bringen, deren Werke mit vielschichtiger Reichhaltigkeit prunken und deshalb vom englischen Musikwissenschaftler Richard Toop als »noch komplex« bezeichnet wurden: »Aber wer benutzt solche Etiketten? Sie verkaufen sich nicht gut! Und das ist natürlich der journalistische, der Reklame-... Aspekt.« Sogar im Zeitalter der Postmoderne muss alles als »neu« präsentiert werden. Deshalb prägte Toop seinerzeit das Stichwort »New complexity«.Im deutschsprachigen Raum verbinden wir mit »Neuer Komplexität« in erster Linie die Musik von Brian Ferneyhough und einigen seiner ehemaligen Schüler. Doch so sehr Ferneyhough in diesem Kontext möglicherweise eine Schlüsselposition zukommt - ähnlich der des jungen Stockhausen für den Serialismus der Fünfzigerjahre - waren es ursprünglich vier junge englische Komponisten, nämlich James Dillon, Michael Finnissy, Chris Dench und Richard Barrett, welche 1988 unter dem Schlüsselbegriff »New complexity« versammelt wurden. Ihren Partituren ist bei allen individuellen Eigenheiten die Ausarbeitung der klassischen Tonsatzparameter Tonhöhe, Rhythmik, Artikulation und Klangfarbe in höchster Virtuosität und Komplexität gemeinsam.Der Versuch, das Schwierige, Komplizierte, Komplexe in den Werken dieser englischen Komponisten im Gegensatz zu den verschiedenen Ausprägungen des von Toop abgewerteten »Neuen Kapitulationismus« - wie etwa Neue Einfachheit, Neotonalität, New-Age-Trends und postmoderne Beliebigkeit - mit dem Stichwort »Neue Komplexität« zu umschreiben, entwickelte sich spätestens seit der Rotterdamer Tagung »Complexity?« im Jahre 1990 zu einem europäisch-amerikanischen Trendbegriff. Dillons jüngstes Orchesterwerk »ignis noster«, zwischen Oktober 1991 und Juni 1992 komponiert, bezieht sich auf alchimistische Traktate des 15. und 16. Jahrhunderts, denen er drei zentrale Gedanken für seine Komposition entnahm: Verständnis für Feuer im »göttlichen« Sinne, im ursprünglichen als »Prima materia«, Feuer aber auch als Inbegriff der Verwandlung und schließlich als eine dialektische Vermittlung zwischen den Konzepten. Diese drei Ideen aus der antik-mittelalterlichen Alchimisten-Tradition finden ihre Entsprechung in der musikalischen Gestaltung des Orchesterwerkes, in einer, wie Dillon es formuliert, »Wiederholung wetteifernder Techniken«. Dabei seien drei »virtuelle Zustände« zu unterscheiden: »Das erste potenziell statisch - Material, das klar geschichtet und gegensätzlich ist; das zweite potenziell dynamisch - verwobenes oder gemischtes musikalisches Material; und als drittes eine Dialektik zwischen den beiden innerhalb eines Abschnittes.« Dillon lässt in »ignis noster« mehrere generative Prozesse parallel ablaufen, deren Verbindung ähnlich wie in der filmischen Parallelmontage darauf beruht, dass sie innerhalb derselben Realität koexistieren. Zeit wird auf diese Weise elastisch gehandhabt; für Augenblicke wird unser Bewusstsein durch das verdreifachte Zeiterlebnis dem unerbittlichen Verfließen der Zeit enthoben und meint, an verschiedenen Zuständen zugleich teilzuhaben, an verschiedenen Seinsweisen mit unterschiedlicher Tätigkeitsdynamik. Die drei virtuellen Zustände reihen sich zu insgesamt 18 verbundenen Abschnitten, die sich allesamt in kontinuierlicher und dichter Verwandlung befinden.Eine Musik wie diese, deren Klangwelt teils durch die Gruppierung der Orchestergruppen romantische Züge annimmt, teils durch Ausbrüche von Marimbaphonen und Vibraphonen an Boulez erinnert, wirkt in ihrer Aussage auf nicht wenige allzu abstrakt, um ganz verstehbar zu sein. Die Überfülle von Schallereignissen strapaziert das Erkenntnisvermögen ständig bis an seine Grenzen, in einer Gratwanderung zwischen selbstloser Unterwerfung und verzweifelter Heiterkeit, doch ist damit noch lange nichts über die von dem amerikanischen Komponisten Roger Reynolds »funktionale Komplexität eines musikalischen Ereignisses« ausgesagt: »Es wird vielmehr gemessen, während man zuhört; an wahrgenommenen Patterns, aufgespürten immanenten Vorgängen, vorweggenommenen Übereinstimmungen, die verloren sind - an dem schwachen, schwankenden Hin- und Herpendeln zwischen der Zufriedenheit des Verstehens und der Verwirrung über Widersprüche. Kann der Hörer gruppieren, kategorisieren, ausschließen, vorhersagen, isolieren, identifizieren? Wenn die Natur der Ereignisse selbst oder die Grundlage ihrer Organisation als unklar wahrgenommen wird, dann frustriert das den Hörer. Funktionale Komplexität ergibt sich aus den Ausmaßen des Erlebnisses, nicht aus denen des Entwurfs.«Dem Komponisten selber geht es in keiner Weise darum, dass die Hörer dem Verstehen struktureller Logik gelehrt bis frustriert hinterherjagten: Worauf es ihm ankomme, so Dillon, sei das Paradox eines Nicht-Hinhörens, ein staunendes Hinhorchen. Dabei gehe es ihm eben nicht um so etwas wie Lachenmanns »Befreiung der Wahrnehmung durch Eindringen in die Struktur des zu Hörenden«, sondern um die Entwicklung eines lauschenden Hörens in die Tiefe: »Wenn ich probeweise versuche, das, was beim Musikhören passiert, durch Sprache zu artikulieren, bewege ich mich nur in Richtung einer völlig falschen Art von scheinbarer Klarheit. Der tatsächliche Akt des Hörens wird immer ein Element des Vertrauens mit sich bringen. .. Den Hörprozess als eine integrale Schicht des musikalischen Gewebes zu aktivieren, schließt jede Art von eindimensional-verkopftem »Uni-verstehen« aus. Die Kompetenz des Hörers ist möglich, wir müssen ihm nur vertrauen. Und das wahre Hören ist in seiner Tendenz sowieso nicht notwendig mitteilsam. So ist aus meiner Sicht die einzige Entwicklung, auf die es ankommt, spiritueller Art: in Richtung einer Bewegung des Hörens in seine Tiefen, als eine Art Kontraktion.«Komponistenaussagen wie diese lassen es bitter nötig erscheinen, sich des spezifischen Charakters des musikalischen Erlebens zu vergewissern. Ist doch das ästhetische Erlebnis von Musik bis heute weitgehend ausgegrenzt seit dem brillant formuliertem Feldzug des Musikforschers Eduard Hanslicks gegen die »verrottete Gefühlsästhetik«, und noch verstärkt durch Theodor W. Adornos Loblied auf den »Expertenhörer« und dessen nur ihm mögliches strukturelles Hören; geradezu eine regelrechte Erlebnisfeindlichkeit ist auf weite Strecken zu attestieren. Dass umgekehrt eine Beschäftigung mit dem Musikerleben dem Wissen über Musik förderlich sein könnte, wird häufig genug verdrängt und ignoriert. Deshalb wird auch das Verstehen von Musik allzu oft als verstandesmäßig fixiert interpretiert; alle emotionalen Komponenten der Musik und des Musikerlebens werden zugunsten eines wie auch immer definierten »Geistigen« stillschweigend oder explizit ausgegliedert.Demgegenüber setzt sich erst in jüngster Zeit allmählich die Einsicht durch, dass das Musikverstehen ein der Musik des 18. und 19. Jahrhunderts angemessenens Konzept ist, während in der Musik unseres Jahrhunderts ein solches schemageleitetes, verstehendes Hören nur noch in Ansätzen oder gar nicht mehr möglich und vielfach auch gar nicht intendiert ist. Die Rätselhaftigkeit vieler Musikwerke unseres Jahrhunderts lässt sich nicht mehr eindeutig und endgültig verstehen, wir können sie bestenfalls aushalten. An die Stelle des Verstehens struktureller Logik hat vielmehr ein »Sich-Einlassen«, ein »staunendes Hinhorchen« zu treten.Prof. Dr. Hartmut Möller
Universal-Lexikon. 2012.